Foto © Gerhard Westrich

Christine Gransalke wurde in Lübbenau geboren, wuchs im Spreewald auf u nd arbeitet als freiberufliche Autorin. Sie ist Mitglied im Verband deutscher Schriftstellerinnen
und Schriftsteller und lebt in der Nähe von Cottbus.

Christine Gransalke liest aus „Narrenstedt-Krimi“ und dem Roman Auf einmal“, erschienen im Verlag Regia-Co-Work.

Leseprobe: Narrenstedt-Krimi

Alwin Olsen, der Bürgermeister von Narrenstedt, saß mit grimmiger Miene und nur mit einem Hausmantel bekleidet an seinem Küchentisch und bereitete sich sein Frühstück zu, das aus einem Haferflockenmüsli mit Walnüssen, einer Tasse Kaffee und einem Glas Orangensaft bestand. Er aß es ohne Appetit und dachte dabei über seine gegenwärtigen Probleme nach. Die Sanierungsarbeiten am Schloss in der Innenstadt, das zum Sitz der Stadtverwaltung ausgebaut werden sollte, gingen seit Jahren nur im Schneckentempo voran. Mal fehlten die Fördermittel, dann die Baufirmen oder das Material. Und nun streikten auch noch die Arbeiter, weil im Gebäude unglaubliche Dinge passierten. Von Klopfgeräuschen und Stöhnen in den Wänden, von Spuk und Geistern war die Rede. Es wurde gemunkelt, dass einer der Schlossherren in seinem Totenhemd durch die Räume spaziere und den Verlust seiner Schätze beklage. Solche und andere unerklärliche Dinge waren typisch für Narrenstedt.

Alwin Olsen glaubte eher, dass die Bauarbeiter während der Arbeit ein paar kräftige Schlucke zur Stärkung tranken. Soweit er die Geschichten der Generationen kannte, hatten hier viele Leute ein Alkoholproblem. Sie stammten von den Bergleuten ab, die früher mit Spitzhacken und Schaufeln in den Gruben arbeiteten. Die Kohleförderung war schwer und staubig. Kein Wunder, dass Grubenschnaps und Bier die beliebtesten Getränke waren. Damals florierten in der Stadt acht Brauereien und sechzehn Kneipen. Auch heute noch war Alkohol das Grundnahrungsmittel der Bevölkerung, wodurch der Ort bei den umliegenden Städten einen schlechten Ruf hatte.

In Gedanken versunken ließ ihn das Schrillen des Telefons zusammenschrecken. Er nahm den Hörer ab und hörte eine gebieterische Stimme. „Ich möchte mit dir sprechen. Es ist dringend. Kann ich schnell vorbeikommen?“

Olsen kannte die Stimme. Es war Helmut Korner, der Polizeichef der Stadt. Er war eine imposante Erscheinung mit dichtem grauem Haar und einer respekteinflößenden Art. Wenn er sich meldete, gab es immer Probleme.

„Okay, komm. Aber schnall dich an und überschreite nicht das Tempolimit.“
Er hörte ein lustiges Brummen, bevor ein Klicken das Telefonat beendete. Hastig zog er sich Hemd und Hose an, band sich einen Schlips um, zog ein Jackett an, warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, fuhr sich mit dem Kamm durch die Haare und warf die Tür zum Schlafzimmer mit dem ungemachten Bett zu. Als er aus dem Fenster blickte, fuhr gerade der Polizeiwagen vor. Alwin Olsen wohnte in einer Mietwohnung am Schlosspark Raakow. Er öffnete die Tür und empfing den Polizeichef im Flur. Mit seiner typischen großspurigen Art stolzierte Korner gleich ins Wohnzimmer und sah sich dabei nach Polizistenart im Raum um. „Geschmackvoll eingerichtet“, nickte er anerkennend. „Aber du kannst es dir ja leisten.“

Korner durfte so mit ihm sprechen. Sie kannten sich seit der Schulzeit und hatten sich im Umgang miteinander einen rauen Ton zugelegt.

„Setz dich und trink eine Tasse Kaffee“, sagte Olsen. „Und dann spuck deine schlechten Nachrichten aus.“

Als Korner die Kaffeetasse zum Mund hob, verschwand der Henkel vollständig in seiner Hand und die Tasse sah aus wie ein Puppengeschirr. Er warf Olsen einen verdrießlichen Blick zu und ließ eine Tirade vom Stapel: „Bisher hatten wir in dieser Stadt immer nur Alkoholprobleme. Aber jetzt nehmen Drogenkonsum, Diebstahl und Vandalismus zu. Aus Autos und von öffentlichen Orten, wie dem Postamt, der Schule und der Turnhalle verschwinden Gegenstände und Wertsachen und die Kleidercontainer werden auch geplündert. Heute Nacht ist der Münzautomat an der Steinitzer Treppe geknackt worden und jemand hat auf die Plattform gesprüht – Wer runterfällt, hat zu viel getrunken.“

Bibliographie

Der Narrenstedt-Krimi (REGIA-CO-WORK Verlag, 2021)

Anthologie: Hier ist herrlich arbeiten (vbb Berlin, 2021)

Roman: Auf einmal (REGIA-CO-WORK Verlag, 2020)

Roman: Ambrosia-Die Heimsuchung von Narrenstedt (REGIA-CO-WORK Verlag, 2018)

Kinderbuch: Kasimir und Fridolin (REGIA-CO-WORK Verlag, 2020)