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Daniela Dahn, geboren in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und war Fernsehjournalistin. 1981 kündigte sie und arbeitet seitdem als freie Schriftstellerin und Publizistin. Sie war Gründungsmitglied des «Demokratischen Aufbruchs» und hatte mehrere Gastdozenturen in den USA und Großbritannien. Sie ist u.a. Trägerin des Fontane-Preises, des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik, der Luise-Schroeder-Medaille der Stadt Berlin und des Ludwig-Börne-Preises. Bei Rowohlt sind bislang dreizehn Essay- und Sachbücher erschienen, zuletzt «Im Krieg verlieren auch die Sieger» (2022).

Daniela Dahn liest u.a. aus „Im Krieg verlieren auch die Sieger“, 2022 erschienen bei Rowohlt.

Kassandra lässt grüßen – zur Einstimmung

Über nichts ist in jüngster Zeit so viel öffentlich reflektiert worden wie über den russischen Angriffskrieg, eingebettet in vermeintliche Parallelen und Gegensätze aus Geschichte und Gegenwart. Und dennoch ist eine Selbstgleichschaltung der großen Medien unverkennbar. Klagen, von Kriegspropaganda eingehüllt zu sein, sind allgegenwärtig. Die im Sandkasten wie auch vor Gericht von alters her geltende Regel, wonach im Streitfall beide Seiten zu hören sind, ist komplett außer Kraft gesetzt. Den Bürgern wird die Fähigkeit, sich selbst durch Abgleich der Informationen eine Meinung zu bilden, nicht zugetraut und nicht zugestanden. Dabei besteht doch Freiheit gerade darin, sich unter allen Umständen in die Lage versetzen zu können, das Vernünftige zu tun. Das Phänomen wird allerdings seit Generationen beklagt. Mark Twain: «Wenn man keine Zeitung liest, ist man uninformiert. Wenn man Zeitung liest, ist man desinformiert.»
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Der Krieg, so nicht mehr für möglich gehalten, blamiert unsere Gewissheiten, offenbart unseren Gleichmut, entlarvt unser Halbwissen, belegt unsere Ohnmacht, spottet jeder Beschreibung. Zuvor schon im Krisenmodus alarmiert, sind wir in Haft genommen mitanzusehen, wie viele glücksuchende Leben ausgelöscht werden, wie viele kostbare Güter der Menschheit in Rauch aufgehen. Wenn wieder einmal Grund ist, an unserer Lernfähigkeit zu zweifeln, dann jetzt.
«Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, einseitig unterrichtet, ohne Distanz von den großen Veränderungen, die sich bereits vollzogen haben oder zu vollziehen beginnen, und ohne Witterung der sich gestaltenden Zukunft, werden wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns aufdrängen, und an dem Wert der Urteile, die wir bilden.» So Sigmund Freud 1915, im Ersten Weltkrieg, unter der Überschrift «Die Enttäuschung des Krieges». Versprachen sich damals noch viele Getäuschte von einem Krieg patriotischen Gewinn, so hegen heute hoffnungsvolle Erwartungen höchstens noch politische Eliten, mit ihren für die Völker maßlos überzogenen Prioritäten geopolitischer Erwägungen.
Der gegenwärtige Krieg ist eine einzige Katastrophe – für die ganze Welt, aber vor allem für die Ukraine. Wer immer darüber nachdenkt, fragt sich, wie dem geschundenen Land und seinen Menschen am wirksamsten zu helfen ist. Von Anfang an standen sich zwei diametrale Sichtweisen über die zweckmäßige Unterstützung gegenüber – Waffen oder Waffenstillstand. Ein Kriegsende als «Siegfrieden» nach opferreichen Kämpfen auf dem Schlachtfeld oder mit Blick auf die allseitigen Fehler in der Vorgeschichte sieglos, mit beidseitigen Kompromissen am Verhandlungstisch. Die gängige Polemik auf den Punkt gebracht, steht ein «naiver Pazifismus» einem «skrupellosen Bellizismus» gegenüber…
Was im Kriegsgeschrei fast immer übertönt wird ist, sich darum zu sorgen, wie der Frieden gewonnen werden kann. Frieden ist bekanntlich mehr als Waffenstillstand und Krisenmanagement. Pax – der lateinische Wortstamm erinnert daran, dass Frieden ursprünglich das Resultat eines Vertrages war. Frieden entsteht nicht im Selbstlauf, sondern bedarf verbindlicher Abmachungen. Wer Frieden schaffen will, sollte eine Idee davon haben, wie wir eigentlich leben wollen. Eine Idee ist keine Ideologie, aber eine Anschauung von der Welt ist kein Nachteil. Wer den Frieden gewinnen will, dem muss der Alltag groß sein, und das Große alltäglich.
Ein friedliches Leben wäre für mich eins von Freien und Gleichen, die sich – nicht zuletzt befähigt durch eine blühende Kunst und Kultur – mit hohen moralischen Ansprüchen begegnen: großzügig und tolerant, gebildet und uneigennützig, aber auch ungenügsam und vorwärtsdrängend. Sozialer Friede wird nur unter der Dominanz von Gemeinwohl und Gemeineigentum gelingen. In einer solchen Welt müsste man in den Städten wieder atmen können, in den Flüssen baden und in den Wäldern Schatten finden. Alle Kreaturen, auch Pflanzen und Tiere, brauchen Frieden. Man könnte sich ihn leisten, wenn Waffen auf allen Seiten nur noch in Museen das Gruseln lehren. Beim Frieden geht es um alles oder nichts, um Sein oder Nichtsein. Damit der Traum vom ewigen Frieden keine Utopie bleibt.

Bibliographie

Prenzlauer Berg-Tour. Mitteldeutscher Verlag Halle/Leipzig 1987, ISBN 978-3-354-00139-8. Neuausg. Rowohlt Verlag, Berlin 2001. ISBN 978-3-87134-430-5

Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten. Politisches Sachbuch, Reinbek 1994, ISBN 978-3-499-13423-4

Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit. Essay. Berlin 1996, ISBN 3-499-60341-1

Vertreibung ins Paradies. Unzeitgemäße Texte zur Zeit. Essays. Reinbek 1998, ISBN 3-499-22379-1

In guter Verfassung. Wieviel Kritik braucht die Demokratie? Essay und Dokumentation, Reinbek 1999, ISBN 3-499-22709-6

Wenn und Aber. Anstiftungen zum Widerspruch. Essays. Reinbek 2002, ISBN 3-499-61458-8

Demokratischer Abbruch, Von Trümmern und Tabus. Essays, Reinbek 2005, ISBN 3-499-61973-3

Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen. Rowohlt, Hamburg 2009, ISBN 978-3-498-01329-5

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Wir sind der Staat! Rowohlt, Hamburg 2013, ISBN 978-3-498-01333-2Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. Die Einheit – eine Abrechnung. Rowohlt, Hamburg 2019, ISBN 978-3-499-00104-8

Denken, was eigentlich nicht geht. Daniela Dahn über den Film Zeitschleifen nach dreißig Jahren. In: Leuchtkraft – Journal der DEFA-Stiftung, Onlineveröffentlichung 2020, abrufbar als PDF (S. 93–98) von DEFA-Stiftung, zuletzt abgerufen am 28. Dezember 2020.

zusammen mit Antje Vollmer et al.: Neubeginn. Aufbegehren gegen Krise und Krieg. Eine Flugschrift. VSA Verlag, Hamburg 2022, ISBN 978-3-96488-138-0.

Im Krieg verlieren auch die Sieger. Nur der Frieden kann gewonnen werden. Rowohlt, Hamburg 2022, ISBN 978-3-499-01174-0

mit Rainer Mausfeld: Tamtam und Tabu. Meinungsmanipulation von der Wendezeit bis zur Zeitenwende. 260 Seiten, aktualisierte und erweiterte Neuauflage, Westend, Frankfurt am Main 2022, ISBN 978-3-86489-915-7.