Foto © Gerhard Richter

Gerhard Richter ist Autor und Musiker. Als renommierter Hörfunkjournalist und hat er über hundert Reportagen und Features für Deutschlandfunk Kultur und andere Sender produziert. Die Erfahrungen aus seinen Recherchen und Reportage-Reisen auf mehreren Kontinenten verwebt er mit den Blüten seiner Fantasie zu dichten Erzählungen – jede anders in Form und Ton. Gerhard Richter lebt mit seiner Frau und seinen Kindern ganz unauffällig und ausschließlich in einer brandenburgischen Kleinstadt. Nach dem Erzählband „Windungen“ schreibt er derzeit an seinem ersten Roman. Als „field-writer“ setzt er sich auf Mülldeponien, Verkehrsinseln und Truppenübungsplätze und tippt Feldreporte über sein Verhältnis zur Natur in seine Schreibmaschine.

Gerhard Richter liest aus „Windungen“, 2021 erschienen im Ultraviolett-Verlag.

Leseprobe

Setzbergs letzte Fahrt

Der Manager Setzberg hat aus einer Wildnis einen durchorganisierten und rentablen Naturpark gemacht. Als Belohnung schenkt er sich eine Limousine mit Autopilot. Damit fährt an seinem letzten Arbeitstag zur Abschiedsfeier zur Parkverwaltung. Inmitten der Wildnis spielt die Technik verrückt und sorgt dafür, das Setzberg nicht dort ankommt, wohin er wollte…

Seinen Abschied als Senior-Area-Chief, wie er sich in seinem letzten Dienstjahr nennen ließ, hat sich der Setzberg heute so vorgestellt: Ganz normaler Arbeitstag, die Kontrolle nicht aus der Hand geben, und kurz nach der Mittagspause ein Treffen mit ein paar Sätzen an die Mitarbeiter, höchstens eine Viertelstunde, so dass klar ist, dass danach noch weitergearbeitet werden muss. Bloß nicht zum Feierabend, sonst droht ein langer ausgefranster Abschied, womöglich noch mit Smalltalk, der private Sphären streift. Überflüssige Zeremonien waren dem Setzberg zuwider. Sekt, Geschenke, Reden, dann vielleicht noch Privates im Bierteig, nein danke! Ein aufrichtiger Händedruck hätt’s in Setzbergs Augen schon getan. Einen Händedruck darf man – sparsam eingesetzt – nicht unterschätzen als Geste der Hochachtung und des Respekts. Und dem Chef nach 16 Jahren Untergebensein die Hand zu drücken, das ehrt doch beide, dachte der Setzberg.

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Aber irgendeine Überraschung haben sie bestimmt herangeschafft, ein Andenken oder vielleicht was Praktisches. Etwas Originelles sicher nicht. Das hat der Setzberg ihnen ausgetrieben. `Erziehungsschnitt´ nannte er das, wenn er die Mitarbeiter und deren Ideen abkanzelte. Ein Junior-Area-Chief soll sich nichts ausdenken, er soll sich ausschließlich mit Neuerungen beschäftigen, die Setzberg, der Chef, ihm vor die Nase gesetzt hat: die komplette Umzäunung des Geländes, Tracking sämtlicher Tiere, Besucherführung über die Eingänge und die Sektoren, das Denken in Erfolgskategorien, klare Denk-Sprech-Mach-Muster im Arbeitsalltag, und immer wieder: personal failure-mapping – such den Fehler bei dir selbst. Ganz nach dem Grundsatz: Technik funktioniert, der Mitarbeiter außen rum muss flexibel sein. Nur dann behältst du die Kontrolle.Und es ist nichts passiert in all den Jahren. Kein Tier wurde überfahren, kein Tourist gefressen, die Natur hatte ihre liebe Ruhe und alle Besucher haben was gesehen und gegessen und getrunken. Ein Drittel der Besucher kam zweimal, und ein Viertel dreimal, um ihre Runde von Aussichtspunkt zu Aussichtspunkt zu drehen. Vier Millionen neunhunderttausendachthundertvierundsiebzig zahlende Gäste, seit er vor 16 Jahren die zugewucherten 80 Hektar Wildnis übernommen hatte. Und diese Vorarbeit war sein Geschenk an seinen Nachfolger: Der fünftmillionste Besucher wird in der ersten Woche der kommenden Saison erwartet. Wetterunabhängig. Wer genau das sein würde, bestimmt ohnehin die Naturparkverwaltung, also wird es am Freitag passieren, wenn die Presse Zeit hat und das Bild in der Samstagausgabe erscheint.
Sein Nachfolger darf noch den Blumenstrauß aussuchen, alles andere ist vorbereitet. Die Zentrale wird die Wagenschlange einen Kilometer im Voraus abscannen und herausfinden, in welchem Auto die glücklichen Gewinner sitzen. Soll ja auch Werbung sein für den Park. Also kein männliches Pärchen, keine alleinerziehende Mutter, keine Rentner, keine Jugendlichen. Am besten eine Familie, zwei Kinder, etwa 8 und 12 Jahre alt, Junge und Mädchen. Großeltern und Enkel ginge zur Not auch. Das gibt die besten Identifikationsmuster – Blumenstrauß, Freikarten und dann Feuerwerk auf allen Screens. Und mitten im Bild die strahlende Familie. Alles schon geplant, ein halbes Jahr im Voraus. So macht man Erfolg. Setzberg fiel ein, dass sein Nachfolger auch etwas ganz anderes machen könnte. Er könnte zum Beispiel wieder bei null anfangen zu zählen, und da merkte der Setzberg zum ersten Mal, wie sich Aufhören anfühlt.

Bibliographie

Field Writing, 20 Essays aus der Landschaft, Riffreporter 2019-2022

Windungen, 6 Erzählungen, Ultraviolett-Verlag 2021

Peak Soil, Handbuch Boden , Netzwerk Weitblick e.V., 2023

Restluft, Roman, Ultraviolett-Verlag, erscheint September 2023