Foto © Daniel Biskup

Inge Kloepfer (Jahrgang 1964) ist im Ruhrgebiet aufgewachsen und kennt die Brüche in Strukturen und Biografien daher sehr genau. Sie studierte zunächst Chinesisch und Ostasienwissenschaften, wechselte dann nach einem längeren Aufenthalt in der Republik China zur Volkswirtschaftslehre an die LMU in München. Ihre berufliche Laufbahn begann sie in Frankfurt im Wirtschaftsressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, setzte sie dann 2001 in Berlin als Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung fort.
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Ihren Durchbruch als Buchautorin erzielte sie mit ihrem Beststeller Friede Springer – die Biografie für die sie als Wirtschaftsjournalistin des Jahres ausgezeichnet wurde. Es folgten weitere viel beachtete Sachbücher, darunter Aufstand der Unterschicht – was auf uns zukommt, sowie biografische Werke mit den internationalen Star-Dirigenten Kent Nagano und Omer Meir Wellber. Kloepfer ist auch Autorin mehrerer Filme. Für ihren Film D-Mark, Einheit, Vaterland – das schwierige Erbe der Treuhand wurde sie mit 1. Preis des Helmut Schmidt Journalistenpreises so wie dem Deutschen Wirtschaftsfilmpreis ausgezeichnet. Mit Die Zweifel des Homer Spiegelman legt die Autorin, die inzwischen frei für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schreibt und als Kolumnisten tätig ist, ihren ersten Roman vor.

Inge Kloepfer liest aus dem Roman „Die Zweifel des Homer Spiegelman“, 2023 erschienen im Osburg Verlag.

Leseprobe

Ich kenne Homer Spiegelman nicht gut. Ich bin ihm nur dreimal begegnet. Aber ich kenne seine Geschichte, vermutlich bin ich die Einzige, der er sie je erzählt hat. Warum? Ich weiß es nicht und habe ihn nie gefragt. Homer wuchs in New York auf – in Astoria, einem Stadtteil im Norden von Queens direkt am East River gegenüber der Upper Eastside Manhattans. Irgendwann beschloss er, von dort aus die Welt zu erobern. Es ist ihm gelungen – doch zu welchem Preis?

Unbarmherzig ist das Leben und der Tod ist nicht unbedingt sanft. Das lernte Homer Spiegelman bereits im Alter von acht Jahren. Die Bilder vom Tod seiner Mutter hatten sich auf immer in sein Gedächtnis gebrannt. Ich weiß nicht, wie oft er darüber sprach. Als er mir davon erzählte, konnte er sie, wie er sagte, wie einen Super-8-Film auf den Projektor spannen.
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Er stand am Fenster seines Kinderzimmers im ersten Stock, schaute hinaus, winkte seiner Mutter zu, die sich noch einmal umdrehte, als sie die Straße überquerte, um zu ihrem Auto zu gelangen. Der Blick zu ihm hinauf war ihr Schicksal. Sie dachte an den Sohn, nicht an vorbeifahrende Wagen. 13 Sie blickte nicht nach links und dann nach rechts, wie sie es ihm seit einigen Jahren mit nervenzehrender Penetranz einbimste, als wäre das Überqueren einer Straße eine Reise über den Styx. Und genau deshalb sollte ihr Sohn, der kleine, ewig renitente Homer, eine eindrückliche Demonstration dessen bekommen, was passiert, wenn man beim Überqueren einer Straße sich einmal nicht vorsieht, sondern in Gedanken ganz woanders ist. Weil sie nur Augen für ihn hatte, bemerkte sie den heranbrausenden Chrysler nicht, dessen Fahrer – völlig ungewöhnlich in der schmalen Straße – den Fuß unverändert auf dem Gaspedal belassen hatte. Vor den Augen ihres Sohnes lief sie mit rückwärtsgewandtem Kopf vor das Auto, prallte auf die Kühlerhaube, wurde in die Luft geschleudert, bäuchlings gen Himmel, wobei ihre Gliedmaßen seltsam marionettenartig herunterhingen, und fiel keine zwei Sekunden später ihrem eigenen Wagen, ebenfalls ein Chrysler, vor die Fahrertür. Sie blieb liegen, stand nicht mehr auf, würde so oder so nie mehr aufstehen. Homer starrte aus dem Fenster, regungslos. Er hatte die Augen aufgerissen, als könne er gar nicht glauben, was sich dort unten soeben abgespielt hatte, starrte eine Ewigkeit auf seine regungslose Mutter am Boden, und wunderte sich, dass da so gar kein Blut zu sehen war. Nirgends, dabei hatte sie ihm doch stets eindrücklich geschildert, dass schwere Unfälle an den Blutlachen zu erkennen seien, Blut überall. Aber er sah kein Blut. Irgendwas also konnte da nicht stimmen. Der Fahrer sprang aus dem Auto und schrie. Schrie immer weiter, was Homer an dem weit geöffneten Mund des älteren Herrn erkennen konnte, der fassungslos hilfesuchend unentwegt den Kopf hin und her wandte. Er wusste offenbar nicht, was er tun sollte, traute sich nicht, die Frau, die ihm da soeben auf die Kühlerhaube geprallt war, auch nur mit der Fingerspitze zu berühren. Hätte er nicht so unglaublich geschrien, wären die Nachbarn vielleicht gar nicht auf die Sache aufmerksam geworden. Jetzt aber öffneten sie die Eingangstüren ihrer Vorstadthäuser in Astoria, einem Stadtviertel von Queens, und schauten auf die Wohnstraße, auf der normalerweise so gut wie nie jemand vorbeikam, schon gar kein wild gewordener älterer Chrysler-Fahrer. Im Handumdrehen hatte sich eine kleine Menschenmenge um seine Mutter herum versammelt und beugte sich über sie. Jetzt sah Homer sie nicht mehr. Es muss dann auch 14 dieser Moment gewesen sein, in dem er das Bewusstsein verlor. Schluss, aus, Filmriss. Später würde er sich nur noch an zwei kurze Sequenzen erinnern können: den grotesk verrenkten Körper seiner Mutter in der Luft über der Kühlerhaube und an diese kurze Episode, wie seine Mutter auf dem Asphalt liegend plötzlich hinter einer Menge vornübergebeugter Häupter verschwand. Den Rest kannte er aus Erzählungen, vor allem von Josie, die er in jungen Jahren ein paarmal danach gefragt hatte, wie alles abgelaufen war. Danach verschmolzen seine eigenen wenigen Bilder mit denen, die Josie und sein Vater ihm über die Zeit beschrieben hatten, in seinem Gedächtnis zu eben jenem Film. Und der blieb. Die Polizei und drei Krankenwagen kamen nach endlos erscheinenden Minuten. Irgendjemand muss geistesgegenwärtig genug gewesen sein, ins Haus zurückzulaufen, um den Notruf anzuwählen. Viel mehr als den sofortigen Tod konnten der Notarzt und sein Assistent nicht mehr feststellen. Elaine hatte sich das Genick gebrochen – und das offenbar schon im Moment des Aufpralls. Eine Information, die Homer, als er viel später davon erfuhr, über die Jahre ein wenig Trost gespendet hatte. Vielleicht ist es nicht die normalste Art, aus dem Leben zu scheiden, hatte er sich immer einmal wieder gedacht, aber die schmerzloseste. Das waren die Momente, in denen ihn der oberflächlich längst verblasste Kummer über den Verlust nur noch hin und wieder heimsuchte und er von Sentimentalität übermannt wurde. Dann tat er sich selbst leid, dieser kleine unscheinbare Junge, der so ganz plötzlich mutterseelenallein durchs Leben marschieren musste. Dass es da noch einen Vater gab und eine kleine Schwester, kam ihm in Momenten der Rührung vor Selbstmitleid gar nicht in den Sinn. Nach einer Viertelstunde traf auch der Vater ein, im Handumdrehen Witwer, was man ihm am Telefon gar nicht gesagt hatte, damit er im Schock nicht selbst noch einen Unfall verursachte. Irgendjemand hatte ihn in seiner Autowerkstatt angerufen, die ein paar Blocks entfernt lag. Er war gerade mit einem Kunden von einer Probefahrt in dessen Oldtimer zurückgekommen. Hank blieb kaum etwas anderes übrig, als über der zugedeckten Leiche seiner Frau zusammenzubrechen. Sie war ja noch nicht verpackt, als er kam, in eine dieser grauen, traurigen Kisten verstaut, in die man die Toten zum Abtransport hineinlegt. Homer sah auch nicht, wie sein Vater noch ein letztes Mal das Tuch vom Kopf seiner Frau zog 15 und seine Wange an ihre legte, die noch nicht kalt geworden war. Auch das hatte sein Vater ihm später erzählt. Betreten wichen die Umstehenden zur Seite und wandten ihre Blicke ab. Sie wollten nicht Zeugen des Abschieds werden. Doch irgendwann erbarmte sich ein Nachbar, half Hank auf und begleitete ihn auf die gegenüberliegende Straßenseite zur Haustür. »Wo ist Homer?«, murmelte er, als ihm der Nachbar, ein guter Freund der Familie, die Haustürschlüssel aus der zitternden rechten Hand nahm, um die Türe aufzusperren. Hank hastete die schmale Treppe hinauf ins Kinderzimmer. Da lag er, sein einziger Sohn, bewusstlos immer noch, schneeweiß, mit blauen Lippen. Das dunkelgrüne Sweatshirt war nach oben gerutscht, als klemmte der zierliche Kopf ohne Hals zwischen den Schultern. Hank kniete sich nieder und begann zu schluchzen. Glücklicherweise war ihm sein Freund gefolgt, sonst hätte sich der Vater gleich neben seinen Sohn gelegt und mit ihm das Bewusstsein verloren. Glücklicherweise waren auch die beiden anderen Krankenwagen noch zur Stelle – unter den Fahrern hatte sich eine Diskussion darüber entwickelt, wie nun mit der Leiche zu verfahren sei. Der Nachbar riss das Fenster auf. Eine Bahre mit zwei Trägern, rief er, schnell, der Junge. »Wer weiß, wie lange er schon nicht mehr bei Bewusstsein ist.« Sofort trabten zwei Sanitäter an, im Gleichschritt, die Bahre zwischen sich. Sie hörten auch nicht auf zu traben, als sie den Hauseingang erreichten, sondern erklommen im Laufschritt den ersten Stock. Sie hoben Homer vorsichtig auf die Bahre und trugen ihn die enge Treppe hinunter ins Erdgeschoss, bevor sie ihn unter den mitleidigen Blicken der Nachbarn behutsam in einen der Notarztwagen balancierten und sich mit ihm davonmachten. Hank blieb in der Eingangstüre stehen und blickte dem Wagen nach.
….
»Weißt du«, sagte Homer, »wie es ist, wenn deine Mutter plötzlich nicht mehr da ist?« Ich schüttelte den Kopf. Homer lächelte schief, kniff die Augen zusammen und senkte die Stirn. Wieder sprach er mit gedämpfter Stimme, als würde er im nächsten Moment ein Geheimnis preisgeben. »Alle haben gesagt, sie wüssten, wie es sich anfühlen müsse. Wie ein riesiges schwarzes Loch, eine enorme Leere, die einen wieder und wieder überkommt und aufsaugt«, fuhr er fort, »und dass man Momente der Einsamkeit erlebt, die einen physisch schmerzen.« Er schüttelte den Kopf und machte eine abwertende Handbewegung. »Aber so ist das nicht. Es ist ganz anders …« Er stockte einen Moment. »Es ist, als würde mit einem Mal die ganze Farbe aus deinem Leben verschwinden, das Bunte, das Strahlen, die Kontraste. Alles wird grau, einfach nur fürchterlich grau.« Seine Stimme wurde rauer. Eine Welle tiefer Traurigkeit schien ihn zu überkommen. Oder war es das Mitleid mit dem kleinen Jungen von damals, von dem er gerade erzählt hatte? Ich schaute vorsichtshalber auf mein Bierglas mit dem Rest, der sich darin wie eine Pfütze hielt. »Grau ist die Farbe der Einsamkeit.« Als ich aufsah, stand das Wasser in seinen dunklen Augen. »Dieses Gefühl überkommt mich nur noch selten«, sagte er und atmete tief ein und wieder aus. »Ich weiß nicht, warum es jetzt gerade zugeschlagen hat.«

Bibliographie

Friede Springer. Die Biografie
Hoffmann und Campe, Hamburg, 2005

Peter Hartz. Macht und Ohnmacht
Hoffmann und Campe, Hamburg, 2007

Aufstand der Unterschicht. Was auf uns zukommt
Hoffmann und Campe, Hamburg, 2008

Kent Nagano. Erwarten Sie Wunder!
Berlin Verlag, Berlin, 2014

Omer Meir Wellber. Die Angst, das Risiko und die Liebe. Momente mit Mozart
Econwin Verlag, Salzburg, 2017

Kent Nagano. 10 Lessons of my Life. Was wirklich zählt
Berlin Verlag, Berlin, 2021

Die Zweifel des Homer Spiegelman. Roman.
Osburg Verlag, Hamburg, 2023