Foto © Mike Auerbach

Johannes Groschupf, 1963 in Braunschweig geboren, wuchs in Lüneburg auf. Studium der Germanistik, Amerikanistik und Publizistik an der Freien Universität in Berlin (West). Einer der ersten Entdecker des Bezirks Neukölln; seine Erkundungen wurden unter dem Pseudonym Olga O’Groschen: Gebrauchsweisung für Neukölln (1988) veröffentlicht. Viele Jahre als freier Reisejournalist für Die Zeit, FAZ, Frankfurter Rundschau und andere unterwegs: Hawaii, Karibik, Ukraine, Russland, Kamtschatka, Japan, Indien, Algerien. 1994 Hubschrauberabsturz in der Sahara. 1998 entstand aus dieser Erfahrung das Radio-Feature „Der Absturz“, das im Jahr darauf den Robert-Geisendörfer-Preis erhielt. Seither schreibt er Romane und Jugendromane, zuletzt drei Berlin-Thriller, die alle mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurden.

Johannes Groschupf liest aus „Die Stunde der Hyänen“, 2022 erschienen bei Suhrkamp.

Leseprobe

Radek Malarczyk drehte die Flasche Rachmaninoff auf und nahm einen Schluck. Er saß in seinem alten VW Bulli in einer Parkbucht am Rande Kreuzbergs, nicht weit vom Landwehrkanal. Am anderen Ufer lag Treptow. Er war erschöpft von seinen Wanderungen. Seit drei Wochen stand er hier mit seinem Wagen, tagsüber war er draußen unterwegs, nachts schlief er in seinen Schlafsack eingerollt auf der Rückbank. Das störte niemanden. Auch andere hatten ihre Camping Vans in der Parkbucht abgestellt, doch jetzt im Februar war Radek der Einzige, der hier lebte.
In einer Plastiktüte hatte er sein Frühstück und Abendessen. Brot, Wurst und Käse, Apfel und Banane, er brauchte nicht viel. Außerdem seinen Chesterfield-Tabak, Filter und Blättchen, dazu zwei Flaschen Rachmaninoff. Das Wageninnere roch nach alten Socken, kaltem Zigarettenrauch und Laub, nachts war es schneidend kalt, doch obdachlos war er nicht.

Der Rachmaninoff brannte in seiner Kehle, das tat gut. Brennen musste es, damit die Erinnerungen aufhörten. Am Nachmittag war Radek wieder an der Oberbaumbrücke beim weißen Rad gewesen. Jeden Tag ging er zum Rad und erinnerte sich an den Unfall. Die Kreuzung war stark befahren, niemand achtete auf das weiße Rad, nur Radek stand davor, mit zitternden Händen. Er hatte die Radfahrerin zu spät gesehen, als er abbiegen wollte. Ein halbes Jahr war das jetzt her, doch es hörte nicht auf. Immer wieder trat Radek auf die Bremse, sein Laster kam mit einem Knirschen zum Halt. Draußen die Schreie der Passanten, das Hupen der Autos, er stieg aus und verstand sofort, was geschehen war, als er das verbogene Fahrrad unter dem Hinterrad seines Lasters sah, die Radfahrerin lag da wie eine große Puppe, die jemand weggeworfen hatte.

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Die Bilder gingen ihm nicht aus dem Kopf, standen ihm scharf und klar vor Augen, tagsüber und nachts. Jeden Tag ging Radek zur Oberbaumbrücke, um Abbitte zu leisten, jeden Tag kniete er vor dem weißen Rad nieder und sprach mit schwerer Zunge zu Gott. „Hör mir zu. Ich habe die Frau nicht gesehen, hörst du, ich habe sie nicht gesehen. Vergib mir. Lass mich hier nicht allein. Zrobie wszystko, co chcesz. Ich mache alles, was du willst.“Gott gab ihm keine Antwort.

Klappentext

In der Hauptstadt brennen seit Monaten nachts immer mehr Luxuskarossen. Berliner Autofahrer fühlen sich allein gelassen und gehen in ihrem Kiez gemeinsam auf »Bürgerstreife«, während der polizeiliche Staatsschutz linken Unrat wittert. Die junge Polizistin Romina Winter ist gerade aus disziplinarischen Gründen frisch zum Dezernat für Branddelikte versetzt worden und patrouilliert durch die nächtliche City. Durch die streift auch der Postbote Maurice Jaenisch, der ganz sicher weiß, dass die Stadt von Satan beherrscht wird. Und weil er alles richtig machen will, muss er ihm gegenübertreten. Auch Jette Geppert ist unterwegs. Sie ist Reporterin bei Kriminalprozessen in Moabit, und sie ist ein Super Recognizer: Sie kann Gesichter zuverlässig wiedererkennen. Drei Menschen treiben durch die riesige Stadt, deren Nachtgesicht geheimnisvoll, faszinierend und brandgefährlich ist …

Bibliographie

2023 Olga O’Groschens „Gebrauchsanweisung für Neukölln“, Hirnkost-Verlag
2022 „Die Stunde der Hyänen“, Thriller, Suhrkamp-Verlag
2021 „Berlin Heat“, Thriller, Suhrkamp-Verlag
2019 „Berlin Prepper“, Thriller, Suhrkamp-Verlag
2017 „Lost Boy“, Jugendroman, Oetinger-Verlag
2017 „Lost Girl“, Jugendroman, Oetinger-Verlag
2015 „Das Lächeln des Panthers“, Jugendroman, Oetinger-Verlag
2014 „Der Zorn des Lammes“, Jugendroman, Oetinger-Verlag
2013 „Lost Places“, Jugendroman, Oetinger-Verlag
2008 „Hinterhofhelden“, Roman, Eichborn-Verlag
2005 „Zu weit draußen, Roman, Eichborn-Verlag