Foto © Bernd Lasdin

Joochen Laabs, geb. 3.7.1937 in Dresden; kriegsbedingter Ortswechsel in die Niederlausitz; Oberschule, Straßenbahnfahrer in Cottbus; 1956-61 Studium an der Hochschule für Verkehrswesen Dresden; 1962-75 Arbeit als Diplomingenieur für städtischen Verkehr in Dresden. 1976 Übersiedlung nach Berlin. 1978 Redakteur der Zeitschrift „Temperamente“ bis zur Entlassung der Redaktion 1978; seitdem freiberuflich; 1984,1991/97 Gastdozentur in den USA; lebt in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern.

1993 Generalsekretär Deutsches PEN-Zentrum(Ost), 1998/99 Vizepräsident PEN-Zentrum Deutschland; 1972 Erich-Weiner-Medaille, 1973 Martin-Andersen-Nexö-Preis, 2006 Uwe-Johnson-Preis.

Leseprobe

Cottbus war eine große Stadt

Von vier Straßenbahnlinien durchschnitten, deren eine, wenn die kantigen Wagen ächzend die Brücke über die Schienenlandschaft des Bahnhofs erklommen hatten, einem abends den Anblick der sich entfernenden Eisenbahnzüge bot, auf den Horizont zu, über dem die Rauchfahnen die verglühende Sonne verschluckten, und wo die Gleise nahtlos – was zählt schon das bißchen Atlantik – in die Strecken der Kanada-Pazifik-Eisenbahn übergingen, über die ich durch Jack London bestens Bescheid wußte.

An der Straßenbahnlinie aber nach Süden, wenn die Wagen über den Abzweig zum Stadion geschaukelt waren und dann, auf dem schadhaften seitlichen Gleis die Landstraße noch ein Stück stadtauswärts, lag rechts, ein paar Schritte zurückgesetzt und lückenhaft von Bäumen verdeckt, die Priormühle, ein Ziegelkasten mit halbhohem Schlot; es war natürlich von da an nur ein Gedankensprung bis zu den Quichotteschen Mühlen in der Mancha, und wenn die Bahn in dem maroden Gleis nicht so gelärmt hätte, wären die sich zischend drehenden Mühlenflügel ohne weiteres zu hören und der Ritter lanzeschwingend über Rosinantes Mähne gestreckt im Anritt zu erspähen gewesen.

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Nur wenn man nach Schmellwitz fuhr, also nach Norden, blieb die Bahn in der Häuserschlucht gefangen, und das Gezweig der Linden gab auch nach oben den Blick nicht richtig frei; aber es passierte dennoch, daß man Gänse unter den Wolken hinziehen sah, und obwohl Nils Holgerson, däumlingsgroß, wie er war, im Gefieder verborgen blieb, waren sie doch unverkennbar auf dem Weg zum Kebnekajse, auch wenn sie erstmal Saspow, Skadow und Döbbrick hinter sich bringen mußten.Dafür rollten die Bahnen in der vierten Richtung, nachdem sie die backsteinerne Massigkeit der Oberkirche umkurvt, ihren Schatten zurückgelassen und die Spree überdröhnt hatten, in deren träger rostiger Strömung die Weiden ihre grünen Blätterschnürhaare wuschen, ein paar Werst auf Pachoms Hügel in der Steppe zu.
Einmal erfaßte mich der Schreck: Wenn die Grenze nach dem Krieg nicht an der Neiße sondern an der Spree gezogen wäre, – wozu es kaum weniger Grund gegeben hätte und was im Blick aus Jalta kein so großer Unterschied war – hätte die Bahn den Fuß des Hügels, von wo aus man die Mütze des Baschkiren- ältesten gut sehen konnte, wohl tatsächlich erreicht.Mittlerweile lehrte Cottbus zwar Nürnberg, Hannover und Köln das Fürchten, geschmeidige Bahnen gleiten durch die Stadt und die Strecken sind verlängert, aber so weit wie früher fahren sie nicht mehr.

Bibliographie

Literarische Arbeiten ab 1963

Gedichte (Eine Straßenbahn für Nofretete.1970; Himmel sträflicher Leichtsinn, 1978; Ungerechtfertigtes Lamento, 2017 ),

Romane (Das Grashaus. 1971; Der Ausbruch. 1978; Der Schattenfänger.1990 u. 2000; Späte Reise. 2006)

Erzählungen (Die andere Hälfte der Welt, 1974; Jeder Mensch will König sein, 1984; Der letzte Stern, 1988; Verschwiegene Landschaft, 2001; Der Besuch der Mutter, 2021);

Essay Cottbus deine Dichter, 2011;

Letzte Veröffentlichung: Meine Freunde, die Dichter 2022.