Leif Randt liest aus „Allegro Pastell“, 2020 erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.
Leseprobe
Auf Beates achtundfünfzigsten Geburtstag eingeladen zu sein, löste in Jerome ambivalente Gefühle aus. Er kannte die neue Freundin seines Vaters von zwei Begegnungen, er hatte sich gut mit ihr verstanden, und er wünschte Beate und Jürgen Casper alles erdenklich Gute. Jedoch ging Jerome davon aus, dass auf Beates Party niemand anwesend sein würde, der etwas erzählen könnte, das ihn wirklich interessierte. Er dachte, dass er sehr viel lieber auf einen achtundzwanzigsten Geburtstag gehen würde als auf einen achtundfünfzigsten, ein Gedanke, der ihm selbstverständlich vorkam, obwohl er doch überhaupt nicht selbstverständlich war. Hatten ältere Menschen nicht automatisch den größeren Fundus an Geschichten? Hatten sie nicht längst gelernt, Momente produktiv anzunehmen und aus Gesprächen den größtmöglichen Spaß zu destillieren? Dass Jeromes Erfahrungen mit älteren Menschen in der Regel andere gewesen waren, warf Fragen auf. Lag es vielleicht an der Region, in der er lebte? Waren die Menschen in Kalifornien, Argentinien, Irland, Japan, Neuseeland und Marokko wirklich interessanter gewesen als die Menschen in Hessen? Jerome sagte sich, dass es der falsche Weg war, von anderen irgendetwas zu erwarten. Er selbst war gefordert, die sozialen Situationen, an denen er teilnahm, aufzuwerten. Und sollte er sich dazu in der Lage sehen, am Tag von Beates achtundfünfzigstem Geburtstag, würde er ihre Party besuchen.
Bibliographie (Auswahl)
Leuchtspielhaus, Berliner Taschenbuch Verlag, 2009
Schimmernder Dunst über CobyCounty, Berlin Verlag, 2011
Planet Magnon, KiWi, 2015
Allegro Pastell, KiWi, 2020