Foto © Peter Sickert

Moritz Rinke wurde 1967 in Worpswede geboren. Einige seiner preisgekrönten Geschichten und Essays erschienen unter dem Titel „Der Blauwal im Kirschgarten“, „Das große Stolpern“ sowie „Erinnerungen an die Gegenwart“. Sein Stück „Republik Vineta“ wurde 2001 zum besten deutschsprachigen Stück gewählt und 2008 für das Kino verfilmt wurde. Rinkes erste Arbeit für den Film („September“), in dem er auch als Schauspieler debütierte, wurde 2003 zu den Internationalen Filmfestspielen nach Cannes eingeladen. 2010 erschien sein erster Roman-Bestseller „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“. Sein Stück „Wir lieben und wissen nichts“ wurde 2012 uraufgeführt und mit über 100 Bühnen national und international zu einem der erfolgreichsten deutschen Theaterstücke der Gegenwart. 2018 wurde sein Stück „Westend“ am Deutschen Theater uraufgeführt. 2021 folgte der Roman „Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García“ sowie 2023 „Unser kompliziertes Leben“ (alle Bücher im Kiepenheuer & Witsch Verlag). ZDF/ARTE drehten einen Film mit und über Moritz Rinke.

Moritz Rinke liest aus „Unser kompliziertes Leben“, 2023 erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.

Leseprobe

Bald in Cottbus!

Im Juni lese ich auf einer Parkbank in Cottbus, im Goethepark. Es wird warm sein, bestimmt werden ein paar Vögel singen und sich eine oder vielleicht zwei Cottbuserinnen zu mir setzen, die hoffentlich noch nie bei einer Lesung waren, schon gar nicht bei so einer fast privaten Lesung auf einer Parkbank. Es wird herrlich im Goethepark. Es gibt aber auch Orte des Grauens. Lübeck zum Beispiel, die Thomas-Mann-Stadt.
Günter Grass hatte mich einmal aus einem Krankenhaus angerufen und gefragt, ob ich ersatzweise für ihn lesen könne, in Lübeck, Gottfried Keller, Der grüne Heinrich.
Oh, den Literaturnobelpreisträger vertreten! – dachte ich. „Klar“, sagte ich, „es ist mir eine Ehre!“
„Gut“, antwortete Grass, lesen Sie einfach Ihre Lieblingskapitel aus Der grüne Heinrich, den Rest fassen Sie zusammen!“

Ich besorgte mir das Buch, ich kannte es gar nicht und hatte natürlich auch noch keine Lieblingskapitel. Drei Tage las Gottfried Keller, aber offen gestanden kam ich nie über das erste Kapitel hinaus, ich flog immer wieder vor lauter Naturbeschreibungen raus.
Dafür lief aber meine Lesung in Lübeck anfangs eigentlich gut, ich las natürlich aus dem ersten Kapitel, die Zusammenfassung hatte ich von Wikipedia. Unter einer offenen Halle dieses Waldes ging am frühsten Ostermorgen ein junger Mensch; er trug ein grünes Röcklein, braunes dichtwallendes Haar und darauf eine schwarze Samtmütze, in deren Falten ein feines weiß und blaues Federchen von einem Nußhäher steckte.
Bis hierhin war noch alles okay. Der nächste von mir vorgetragene Satz war auch noch ganz gut: Als Heinrich an den Rand des Waldes trat, überflog der erste Rosenschimmer der nahenden Sonne die geisterhaften Gebilde, über dem letzten einsamen Eisaltar glimmte noch der Morgenstern …, doch dann kam dieser Satz: Der weite See verschmolz mit den Füßen des Hochgebirges in eine blaugraue Dämmerung; die Schneekuppen und Hörner standen milchblaß in der Frühe.
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Plötzlich stand eine Zuhörerin in der ersten Reihe auf und sagte: „Ich bin tief enttäuscht, Günter Grass liest den grünen Heinrich viel besser! Die Schneekuppen und Hörner, die milchblass in der Frühe standen, die hat Grass hier immer mit Betonung gelesen!“
„Ach, Sie waren schon mal bei einer Grass-Lesung vom grünen Heinrich?“, fragte ich erstaunt.
„Ja, schon dreimal, ich bin auch enttäuscht!“, rief eine andere Dame, die sich in einer der hinteren Reihen erhob.
„Das mag sein, dass Grass das mehr betont“, entgegnete ich, „aber ich finde Schneekuppen und Hörner, die milchblass in der Frühe standen – das steht doch für sich? Das muss man ganz monoton vorlesen.“
„Die blaugraue Dämmerung kann ich mir aber bei Ihnen auch nicht vorstellen!“, sagte eine wieder andere Frau. „Bei Grass hat man sofort das Hochgebirge vor Augen, bei Ihnen nicht!“
„Aber vielleicht ist ja gut, dass Ihnen mal jemand aus einer anderen Generation den grünen Heinrich vorliest“, erklärte ich, „für mich ist das nämlich ein bisschen fremd.“
„Ich wette, Sie wissen nicht einmal, was ein Nusshäher ist!“, sagte die Nebenfrau der Dame aus der hinteren Reihe.
„Ein was??“
„Nusshäher!!! Haben Sie doch gerade vorgelesen!“
Ich hatte tatsächlich Nusshäher vorgelesen. Schon beim zugegeben flüchtigen Probelesen des ersten Kapitels hatte ich Nusshäher offenbar überlesen und nicht einmal gegoogelt.
„Er liest Keller und weiß nicht, was ein Nusshäher ist!“, rief eine vierte. „Das ist die Stelle, wo Heinrich Lee, also der grüne Heinrich, mit dichtwallendem Haar nach Deutschland kommt, mit Nusshäher in der schwarzen Samtmütze!“
„Mir ist es, offen gestanden, egal, was der grüne Heinrich in der Samtmütze hat!“ Ich wurde langsam wütend. „Ich bin zeitgenössischer Literat, milchblasse Schneekuppen, blaugraue Dämmerung, Nusshäher in schwarzen Samtmützen – das geht mir total auf die Nerven! Ich mache das hier nur, weil mich Grass gefragt hat! Und weil es ganz gut bezahlt ist! Soll ich Ihnen noch die Wikipedia-Zusammenfassung vorlesen, mit Betonung?“Aber wie gesagt, ich liebe eigentlich Lesungen. Und in Cottbus, ohne Lückeckerinnen, im Goethepark, wird es bestimmt ganz anders!

Bibliographie (Auswahl)

Der graue Engel. Verlag Fannei & Walz, Berlin, 1995. Uraufführung 1996, Schauspielhaus Zürich.

An die Berlinerin. Fannei & Walz, Berlin, 1998.

Der Mann, der noch keiner Frau Blöße entdeckte. Fischer-Verlag. Uraufführung 1999, Staatstheater Stuttgart.

Männer und Frauen. Uraufführung 1999, Staatsschauspiel Hannover.

Das Stockholm-Syndrom. Uraufführung 1999, Schauspiel Bonn.

Republik Vineta. 2000. Uraufführung 2001, Thalia-Theater Hamburg.

Der Blauwal im Kirschgarten, Rowohlt Berlin 2001.

Trilogie der Verlorenen. Stücke. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2002, Reinbek bei Hamburg.

Die Nibelungen. Rowohlt Taschenbuch Verlag 2002. Reinbek bei Hamburg. Uraufführung Nibelungenfestspiele in Worms.

Die Optimisten. Uraufführung 2003, Schauspielhaus Bochum.

Das große Stolpern. Kiepenheuer & Witsch 2005.

Cafe Umberto. Rowohlt Taschenbuch Verlag: Reinbek beim Hamburg 2005. Uraufführung Düsseldorfer Schauspielhaus und Thalia Theater Hamburg.

Die Nibelungen. Siegfrieds Frauen. Die letzten Tage von Burgund. Erschienen als überarbeitete und erweiterte Neuauflage, Rowohlt Taschenbuch Verlag: Reinbek bei Hamburg 2007.

Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag 2010.
Wir lieben und wissen nichts. Rowohlt Verlag 2013. Uraufführung 2012, Schauspiel Frankfurt.

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Erinnerungen an die Gegenwart. Kiepenheuer & Witsch Verlag 2014.Luthers Hochzeit. Bisher unveröffentlicht, von der EKD untersagt.
Westend. Uraufführung 21. 12. 2018 Deutsches Theater Berlin. Als Hörspiel, MDR-Produktion, September 2020Der Mann, der sich Beethoven nannte (oder Warum die Welt durch Kunst doch nicht besser wird) Uraufführung 12 und 28. 11. 2020 Theater Gütersloh/ Neuköllner OperDer längste Tag im Leben des Pedro Fernández García, Kiepenheuer & Witsch Verlag 2021.Unser kompliziertes Leben, Kiepenheuer & Witsch Verlag 2023