Foto © Francesca Torricelli

Nell Zink, in Kalifornien geboren, wuchs im ländlichen Virginia auf. Nach Zwischenhalten in New York, Philadelphia und Tel Aviv zog sie 2000 nach Tübingen. Seit 2013 lebt sie in Bad Belzig. Ihr 2019 erschienener Südstaaten-Roman Virginia wurde für den National Book Award nominiert. Der Mauerläufer (2016), Avalon (2022) und Virginia wurden von der New York Times zu den 100 bedeutenden Bücher des jeweiligen Jahres gezählt. Im Herbst war sie Friedrich-Dürrenmatt-Professorin für Weltliteratur an der Uni Bern. Ihr neuester Roman Avalon erschien bei Rowohlt im Mai in der deutschen Übersetzung von Thomas Überhoff.

Nell Zink liest aus „Avalon“, erscheint 2023 bei Rowolt.

Leseprobe

Ich habe Probleme, meine Kindheit in eine chronologische Reihenfolge zu bringen. Sie taucht nur in Fragmenten auf, wie ein entkernter und segmentierter Apfel. Setz ihn wieder zusammen, und das Innere verschwindet. Meine erste eigene Erinnerung ist die daran, wie weich sich der Staub auf der Unterseite einer langen rechteckigen, zentimeterdicken Stahlplatte anfühlte — eine, wie sie verwendet werden, um beim Straßenbau Löcher abzudecken, etwa eins zwanzig lang und mit zwei runden Löchern drin, damit ein Kran sie anheben kann —, die auf der Bourdon Farm gegen die Schlackenbetonwand eines Düngemittelschuppens lehnte. Die seltsame Stille dahinter, das schräg einfallende Licht, der scharfe Geruch. Unter meiner pinkgetönten, gelblichen rechten Hand das von Spritzwasser oder Regen unberührte Gesprengsel von Zement und Rost. Ich weiß, ich war fast noch ein Baby, weil die Stahlplatte noch heute dort steht und der Raum darunter winzig ist. Spielte ich da, versteckte ich mich, oder beides? Keine Ahnung. Das meiste, was ich weiß, stammt aus zweiter Hand.

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Die Hendersons aus Torrance, Kalifornien, gehen einem über Generationen geführten Gewerbe nach. Ihr Haus, wie auch ihr Hof, sind mit Clan-Memorabilien gefüllt. Ein historischer Gefrierschrank samt erhaltener Tür birgt einen Baseballschläger, verziert mit aztekischen Tempelszenen, die in einer Kombination von Holzbrenntechnik und Emaillierung aufgebracht sind. Ein flacher, ausgetrockneter Brunnen birgt einen zerbrochenen Schaukelstuhl mit handbestickter Sitzfläche. Doug hat ihn mal nach einem Regenguss im Schlamm als Schlitten benutzt. Für einen Versuch hat es gereicht, so erzählte er mir, danach warf er ihn in den Brunnen. In meiner Kindheit blätterte ich in den spröden schwarzen Seiten grüner Fotoalben und erkannte unsere vordere Veranda hinter einem weißhaarigen Mann am Lenkrad eines glänzenden 1920er Ford T. Der längst ausrangierte Wagen stank nach Hühnerscheiße. Zu meinen Lebzeiten hatte es dort keine Hühner gegeben.Das Grundstück erstreckt sich über gut zweieinhalb Hektar unter der Starkstromleitung, die von La Fresa nach Redondo Beach hinunterführt. Es reicht von Straße über Schlucht zu Straße, die Umzäumung wird von der Elektrizitätsgesellschaft gepflegt, und drum herum führt eine Crossstrecke, auf der Grandpa Larry früher mit seinen besten Biker-Saufkumpanen Rennen fuhr. Das Gewerbe ist eine auf Exotenimporte und Formschnitt spezialisierte Baumschule. 1978 limitierte die California Proposition 13 die Grundsteuer auf ein Prozent der Wertfestsetzung von 1976. Umzüge sowie An- und Neubauten zogen finanziell einschneidende Neubewertungen nach sich. Um ihre Bemühungen um Werterhaltung zur Schau zu stellen, während sie fünfzig Jahre lang in denselben bescheidenen Häusern lebten, verlegten sich die Reichen aufs Gärtnern, und da kam die Bourdon Farm ins Spiel.

Wie bei vielen Familienbetrieben ist der Schlüssel zur Rentabilität dieses Geschäfts unbezahlte Arbeit von Frauen, Kindern und unlängst Geflüchteten, die einen Schlafplatz brauchen. Bestenfalls grauer Markt, wahrscheinlicher Schwarzmarkt. Aber Steuerfahnder legen sich nicht mit den Hendersons an. Dazu bräuchte es schon das FBI, und es würde Jahre dauern. Eine schlichte Durchsuchung brächte nichts zutage. Da führt keiner Buch oder bringt Geld auf die Bank. Sie würden sich bei den Bundespolizisten für ihre Unwissenheit entschuldigen (Bundesautorität lehnen sie prinzipiell ab) und sie an ihren imaginären, leider abwesenden Arbeitgeber Mr. Bourdon verweisen.

Das Grundstück steht in Kaliforniens Liegenschaftsinventar. So viel weiß ich. Mithilfe des Internets an meiner High-School habe ich herausgefunden, dass es dem Staat gehört. Ich habe Doug danach gefragt. Er erzählte mir, dass Ur-Ur-Grandpa Allans Ranch sich kilometerweit bis hin zur Madrona-Marsch erstreckte, wo er sein Vieh tränkte. Der Staat enteignete es, um die Stadt Torrance zu bauen, und entschädigte die Erben mit einer unbegrenzten Ausnahmeregel für jederlei zukünftig geltendes Recht. „Deshalb hissen wir hier die Fahne der Republik Kalifornien“, erklärte er mit Hinweis auf die Staatsflagge samt Grizzlybär und rotem Stern. „Dies ist der einzige Ort, wo ein Mann noch ein aufrechtes Leben führen kann.“

Bibliographie

Avalon, Rowohlt, 2023
Das Hohe Lied, 2022
Virginia, Rowohlt, 2020
Nikotin, Rowohlt, 2019
Der Mauerläufer, Rowohlt, 2017