Foto © Franziska Hauser
Peter Schneider, geboren 1940 in Lübeck, wuchs in Freiburg auf, wo er sein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie aufnahm. Er schrieb Erzählungen, Romane, Drehbücher und Reportagen sowie Essays und Reden. Zu seinen wichtigsten Werken zählen »Lenz« (1973), »Der Mauerspringer« (1982), »Rebellion und Wahn« (2008), »Die Lieben meiner Mutter« (2013) und »Club der Unentwegten« (2017). Zuletzt erschien sein Roman »Vivaldi und seine Töchter« (2019). Seit 1985 unterrichtet Peter Schneider als Gastdozent an amerikanischen Universitäten, unter anderem in Stanford, Princeton, Harvard und an der Georgetown University in Washington D.C.
Peter Schneider liest aus „Vivaldi und seine Töchter“, erschienen 2019 bei Kiepenheuer & Witsch.
Leseprobe
Der Kameramann Michael Ballhaus gab den ersten An-stoß zu meiner Recherche über Leben und Werk von Antonio Vivaldi. Solange er noch sehen könne, sagte Ball-haus leichthin, wolle er noch ein paar schöne Film-Bilder zu der Musik von Vivaldi machen; er habe sie bereits im Kopf.
Ich wusste von Ballhaus’ unheilbarer Augenkrankheit, die zur Blindheit führen würde. Er hatte die besten Spe-zialisten der Welt konsultiert, aber niemand konnte ihm Hoffnung auf Heilung machen oder auch nur sagen, wann er das Augenlicht verlieren würde. Seine Einladung, ein Drehbuch über Vivaldis Leben zu schreiben, war ein Vor-schlag, zu dem ich nicht Nein sagen konnte.
Der Name rief sofort Erinnerungen bei mir wach. Als Schüler hatte ich die leichteren Konzerte von ihm gespielt. Geübt hatte ich sie oft in einem leeren Klassenzimmer mei-nes Gymnasiums und mit meinen Übungen, die in dem Raum wunderbar widerhallten, die Mädchen des Parallel-Gymnasiums angelockt. Weil es in den fünfziger Jahren im zerstörten Freiburg nicht genügend intakte Schulen gab, war unser gemischtes Gymnasium gezwungen, die Räume mit einem Mädchengymnasium zu teilen; im Wochen-wechsel hatten die Schüler und Schülerinnen des Berthold-Gymnasiums und die Mädchen des Droste-Hülshoff-Gym-nasiums entweder vormittags oder nachmittags Unterricht. Da stand ich also nach dem Vormittagsunterricht, wenn meine Klassenkameraden längst ins Schwimmbad oder zum Fußballplatz geradelt waren, mit meiner Geige in einem Klassenzimmer des roten Backsteingebäudes und füllte die Räume mit den Arpeggios eines Violinkonzer-tes von Vivaldi. Und tat so, als bemerkte ich die Mädchen nicht, die in der Pause die Tür öffneten, unter dem Tür-sturz stehen blieben und mir lauschten. Andere hatten ihre ersten Erfolge, weil sie gute Fußballspieler waren; ich hatte sie mit Vivaldi.Michael Ballhaus war in Franken in einem Wanderthe-ater aufgewachsen, das von seinem Vater geleitet wurde. Mit dieser Wanderbühne war die Familie über Land ge-zogen und hatte viele Stücke des Weltrepertoires gespielt, die man sonst in der Provinz nicht zu sehen bekam. Sie waren damit nicht reich geworden, aber das Wandertheater hat den Krieg und Nachkrieg auf dem Lande überlebt und spielt heute noch.
Mein Vater, Sohn eines Pfarrers, war Komponist und Di-rigent und dem vorbestimmten Schicksal, ebenfalls Pfarrer zu werden, durch seinen virtuosen Umgang mit den Orgel-tasten und -pedalen entkommen. Nach dem Krieg hatte er eine Stelle als erster Kapellmeister an der Freiburger Oper gefunden. Dort holte ich ihn oft nach der Schule ab. Der Mann an der Pforte des Künstlereingangs kannte den Jun-gen mit dem Schulranzen auf dem Rücken und dem Geigenkasten in der Hand und ließ ihn passieren. Er wusste, dass ich mich in den verwinkelten Gängen und Treppen, die nach oben führten, im Schlaf zurechtgefunden hätte. Leise öffnete ich eine der Türen ins Innere des Theaters. In den oberen Reihen setzte ich mich auf einen der mittleren Plätze des leeren Zuschauerraums, der ohne Beleuchtung unermesslich wirkte, und brauchte eine Weile, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ich sah nichts als den Umriss meines Vaters über dem Orchester-graben und – vom Licht des Notenpults beleuchtet – seine Hände mit dem Taktstock in der rechten, die mit einem leichten Heben ein gewaltiges Tutti auslösen konnten. Und wenn er und das Orchester den Rhythmus gefunden hatten, rief die Bewegung seines Oberkörpers noch eine weitere Bewegung hervor: ein heftiges Rucken seines Kopfes, das seinen roten Haarschopf in die Stirn fallen ließ; konnte er jetzt überhaupt noch etwas sehen? Erst wenn er die Passage abbrach, warf er die Haare mit einer lässigen Bewegung der linken Hand zurück.
Bibliographie
Lenz. Berlin 1973.
Die Wette, Berlin 1978, ISBN 978-3-88022-186-4.
Der Mauerspringer. Erzählung. Darmstadt u. a. 1982 (von Reinhard Hauff verfilmt)
Vati. Darmstadt u. a. 1987.
Leyla und Medjnun. Märchen für Musik (Oper; zusammen mit Aras Ören). Musik: Detlev Glanert. UA 1988 München.
Club der Unentwegten. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, ISBN 978-3-462-05018-9.
Vivaldi und seine Töchter. Roman eines Lebens, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, ISBN 978-3-462-05229-9.
Denken mit dem eigenen Kopf. Essays. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, ISBN 978-3-462-05379-1.