Foto © Synke Köhler

Synke Köhler, geboren 1970 in Dresden. Nach ihrem Psychologiediplom war sie Absolventin der Drehbuchwerkstatt München und erhielt den Master für Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2011 erschien ihr Lyrikband waldoffen in der Lyrikedition 2000 im Allitera Verlag. 2016 folgte der Erzählungsband Kameraübung bei Kremayr & Scheriau in Österreich. Sie veröffentlichte weiterhin in Anthologien, Literaturzeitschriften und Zeitungen. Sie erhielt Preise und Stipendien, zuletzt Würth Literaturpreis und Heinrich-Heine-Stipendium in Lüneburg 2017. Ihr Romandebüt Die Entmieteten erschien 2019 im Berliner SatyrVerlag. Die Autorin lebt in Berlin.
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Preise und Stipendien

2021 Recherchestipendium des Berliner Senats
2020 Sonderstipendium des Berliner Senats
2017 Würth Literaturpreis, 2. Preis
2017 Heinrich-Heine-Stipendium Lüneburg
2016 Stadtschreiberstipendium in Hausach
2016 Aufenthaltsstipendium der AdK im Alfred-Döblin-Haus in Wewelsfleth
2015/16 Romanwerkstatt am Brechthaus
2015 Aufenthaltsstipendium des Landes Brandenburg auf Schloss Wiepersdorf
2015 Newcomer Preis beim Literaturpreis Wartholz
2011 Stipendium des Int. Writers‘ and Translators‘ House Ventspils Lettland
2011 Literaturstipendium des Künstlerdorfes Schöppingen
2010 Workshopstipendium mit ‚Forum der 13′ Künstlerhaus Lukas in Ahrenshoop
2009 Stipendium des Int. Writers‘ and Translators‘ House Ventspils Lettland
2006/7 Stipendiatin der Drehbuchwerkstatt München
2006 1. Preis Writing Turnament des Scriptforum

Synke Köhler liest aus „Die Entmieteten“, erschienen 2022 im Satyr Verlag.

Leseprobe

Ein paar johlende Rufe und Pfiffe leiteten das Konzert ein. Mit einem Anflug von Bedauern und einem Schwenk über Kathleen folgte sein Blick den letzten Blättern, die durch die Herbstsonne segelten. Aber sie veranstalteten diesen Zirkus ja nicht umsonst.
– Willkommen!
Grozki zog das Mikro aus seiner Hose, hielt es dicht vor seinen Mund.
– Willkommen bei: Die Tribute vom Prenzlauer Berg!
Seine Stimme hatte sich verändert, sie war jetzt laut und raumgreifend. Der weiche Ton war verschwunden. Zwei Gitarren drängten sich melodisch in die kurze Pause.
– Willkommen bei den Häuserspielen!
Das Publikum, das vorrangig in Grozkis Alter war, um die fünfzig, grauhaarig und im Gegensatz zum shabby vintage chic des sonstigen Prenzlauer Bergs deutlich abgewrackter gekleidet, johlte erneut.
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– Kaufen Sie, liebe Passanten, kaufen Sie! Gehen Sie nicht vorüber. Hier können Sie noch eine weitere Eigentumswohnung erwerben. Sie müssen nichts weiter tun, als uns aus dem Weg zu räumen. Der Konsum heiligt die Mittel. … Sie tun das nicht nur für sich, Sie tun das auch für Ihre Kinder. Ja, liebe Kinder, eure Eltern sind geldgeile Ärsche. … Die Wahl der Waffen liegt bei Ihnen. Messer, Pistolen, Bagger, Anwälte. Greifen Sie zu Ihren Anwälten. Aber wisset, auch wir greifen zu unseren Anwälten. Möge der Heimtückischere gewinnen. Hiermit erkläre ich eine neue Runde der Häuserspiele für eröffnet. Einen Tusch, bitte.

Synke Köhler liest außerdem aus „Kameraübung“, erschienen 2016 bei Kremayr & Scheriau.

Es gab eine Zeit vor und nach Pawel. Vor Pawel war Metzelthin ein Dorf am Ende der Straße. Auch wenn die Straße durch das Dorf hindurch und irgendwohin führte, hatte man das Gefühl, als ob die Straße hier aufhörte, in irgendeinem Feld versickerte, oder im Wald hinter dem Feld, oder im See hinter dem Feld und dem Wald. Fahrräder, Autos, Türen blieben unabgeschlossen. Nichts kam weg, nichts kam hin. Es gab keinen Supermarkt, keine Restauration, kein Handynetz. So gut wie kein Handynetz. Auf unserem Grundstück gab es ein winziges Areal, eigentlich gehörte es schon nicht mehr zu unserem Grundstück, aber aufgrund des Handyempfangs hatten wir das Rasenstück adoptiert, dort konnte man, wenn man Glück hatte, kurze Telefonate führen. Wir hatten das ausgetestet, besser gesagt, Reiko hatte das ausgetestet. Er war akribisch Stück für Stück das Grundstück abgelaufen. Zehn Meter vom Haus entfernt, direkt auf der Straßenböschung, hatte er „Mobilfunkempfang!“ gebrüllt, in etwa so, als wäre er zuvor tagelang durch die Sahara geirrt und hätte nun eine Oase mit Trinkwasser gefunden.
Wir gewöhnten uns an den schlechten Empfang. In gewisser Weise waren wir froh, zivilisatorisch zurückversetzt und nicht erreichbar zu sein. Wäre der Empfang besser gewesen, hätten wir Pawel nie getroffen. Er wäre da gewesen, aber wir hätten seine Anwesenheit nicht bemerkt.
Reiko hatte seinen allabendlichen Handycheck durchgeführt, er kontrollierte, wer versucht hatte, ihn zu erreichen. Der schlechte Handyempfang gab ihm eine gewisse Machtposition. Auch wenn er auch sonst selbst entscheiden konnte, wen er zurückrief und wen nicht, gab ihm diese Situation den Vorteil, dafür keine Verantwortung tragen zu müssen. Statt uns wie immer detailliert und mit Genugtuung darüber zu informieren, für wen er nicht erreichbar gewesen war, als er aus der
„Zone“ zurückkam, sagte er diesmal nur:
– Das müsst ihr euch ansehen.
Reiko hatte dieses Dorf aufgetan, das Dorf und dieses viel zu große Haus, das früher ein Stall war, eigentlich immer noch ein Stall ist, aber jetzt Haus heißt. Es war eine von Reikos berühmten Abkürzungen nach einem Gig gewesen. „Ich glaube, hier lang ist kürzer“, hatte er gesagt und dann hatten wir diese Nacht im Auto verbringen müssen, weil keiner von uns eine Karte dabeihatte und wir heillos übermüdet waren. Kurz und gut, diese Abkürzung dauert jetzt schon über zehn Jahre, hat Reikos Ehe zerschlissen und auch sonst Spuren hinterlassen. Aber ich bin noch da. Mir gehört die Hälfte vom Haus und vom Grundstück. Das Grundstück ist auch viel zu groß, Platz für 100 Kühe. „Und zwei Esel“, sagt Reiko. Damit meint er mich und sich. Jedes Jahr im Frühjahr überlegen wir, ob wir auf der Wiese ein zweites Woodstock ausrichten sollen. Verwerfen es dann aber wieder aus Gründen, die jedes Jahr andere sind. In diesem Jahr waren die Apfelbäume noch zu klein. Da wir nicht reagierten, sagte Reiko noch einmal:
– Das müsst ihr euch ansehen. Da sitzt einer.
Weil Reiko nicht lockerließ, Reiko ließ nie locker, und in Metzelthin erwartungsgemäß nicht viel los war, erhoben wir uns, um uns anzusehen, was wir uns ansehen „mussten“. In der Zone, im Handyempfangsgebiet, saß ein etwa 30-jähriger Mann. Im Gras lag sein Fahrrad, und er biss gerade in ein halbes Brot. Neben ihm stand ein ausgewaschener Stoffbeutel mit dem Aufdruck eines Discounters, von dem man nicht glaubte, dass er jemals Stoffbeutel im Angebot gehabt hatte. Das musste Äonen zurückliegen. Der Mann sah nicht besonders ungewöhnlich aus, etwas verlottert vielleicht – hätte aber auch gut Berlin-Style sein können –, er biss in ein halbes Brot, gut, das war etwas übertrieben, aber in gewisser Weise auch wieder stylisch. Wir glaubten, Reiko hatte uns nur hierher gelockt, um uns zu zeigen, dass es tatsächlich auch noch andere Menschen in Metzelthin gab. Jetzt standen wir, mein Freund Carsten und ich, Reiko und Lydia, Reikos zweite Frau, mit Reikos drittem Kind, Shenja, auf dem Arm neben dem Mann und wir kamen uns reichlich bescheuert vor.

Bibliographie

‚Die Entmieteten‘ – Roman – Satyr-Verlag, Berlin September 2019
ISBN: 978-3-947106-31-8

‚Kameraübung‘ – Erzählungen – Kremayr & Scheriau, Wien 2016
ISBN-10: 3218010241 ISBN-13: 978-3218010245

‚waldoffen‘ – Lyrik – Lyrikedition 2000, Allitera Verlag/BUCH&media GmbH München 2011; ISBN-13: 978-3869061801