Foto © Dirk Bleicker

Dr. Zaia Alexander ist Schriftstellerin, Übersetzerin und Germanistin. Die US-Amerikanerin promovierte an der UCLA, war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Getty Research Center und Programmdirektorin der Villa Aurora in Los Angeles. Vor vierzehn Jahren zog sie nach Potsdam und hat seitdem zwei Sprachen zur Verfügung, eine Befreiung, sagt sie, denn eine Sprache ist für sie nie genug. Aber Los Angeles bleibt ein Teil von ihr: Ihr auf Deutsch verfasster Debütroman, Erdbebenwetter ist 2020 im Tropen-Verlag erschienen und handelt von der Magie der kalifornischen Metropole, vom Meersalz auf der Haut, von der Hitze und lauernden Gefahren. Ihre Hauptfigur Lou wächst zwischen Palmen und Filmstudios auf und verliert sich in einem Hollywood fernab der Traumfabrik: Sie lernt die Welt der Hexerei kennen.

Dr. Zaia Alexander liest aus „Erdbebenwetter“, erschienen 2020 im Tropen Verlag.

Leseprobe

BLAU, DÄMMERUNG

Seit ich mit dem letzten Kapitel meiner Doktorarbeit begonnen hatte, sehnte ich mich schon morgens nach meinem Spaziergang am Nachmittag. Ich maß die Zeit bis zum Aufbruch an den Schatten, die sich über die Wege des Innengartens zogen. Sie bewegten sich schnell, dehnten sich aus und schrumpften. Um die Mittagszeit lösten sie sich auf wie Wolken im Wind und kehrten am Nachmittag vor der Cabaña in Form einer Mondsichel zurück. Sie glitten über die Kakteen und den Kirschbaum hinweg, blieben für die Dauer eines Atemzugs, zwischen Schreiben und Umschreiben, hinter den Mauern verschwunden, bis sie alle Wohnräume des inneren Gartens in ihr Dunkel hüllten, nur meinen nicht, der am
längsten hell blieb, und ehe die Dämmerung auch mein Zimmer erreichte, sah ich noch einmal aus dem Fenster, schrieb und schrieb um und sah zu, wie der Himmel sein intensivstes Blau bekam und das Licht erstaunlich golden wurde. Die Luft um mich her lud sich mit Beklommenheit auf, trieb mich vom Tisch weg und auf die Straßen, aber bevor ich ging, löschte ich den Absatz, den ich den ganzen Tag lang im Rhythmus der Schatten geschrieben und wieder umgeschrieben hatte.

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Die Zeit verging seltsam.

In der Nacht war der Glaskopf, der in der Maueröffnung gestanden hatte, heruntergefallen und zerschellt.

Lola und ich waren an diesem Abend zu Hause gewesen. Sie hatte Hausaufgaben gemacht, ohne sich ablenken zu lassen, sie stand kurz davor, die Highschool abzuschließen. Ich hatte Seminararbeiten korrigiert. Sophie und Gordito lagen auf dem Bett, ineinander verschlungen wie ein zweiköpfiges Wesen, von hinten sahen sie wie Batman und Robin aus.

Tagelang hatten die Santa-Ana-Winde geweht, jetzt war der Abend völlig still. Es war eine befremdliche Stille, ihr fehlte die Kakophonie der vom Wind verursachten Töne. Die Geräuschlosigkeit machte uns schläfrig über unseren aufgeschlagenen Büchern. Weder Lola noch ich erwähnten das gefleckte Tier, obwohl wir, seit es durch unseren Garten schlich, von nichts anderem redeten. Spätnachts weckte uns das Geräusch von zerbrechendem Glas, aber wir waren zu verschlafen, um aufzustehen und nachzusehen. Für Lola war das nicht ungewöhnlich. Sie schlief so fest, dass sie nicht einmal aufgewacht war, als ich kürzlich nachts gegen meinen Schreibtisch gestoßen war und die zehn Kilo schweren Webster’s- Wörterbücher zu Boden gepoltert waren. Mein Schlaf war leicht, falls ich überhaupt einschlafen konnte. Und doch entdeckte ich erst am nächsten Morgen, was passiert war. Lola kam in meine Wohnung zurückgerannt, die sie wenige Sekunden zuvor verlassen hatte, um zur Schule zu gehen.

»Der Glaskopf!«

Atemlos stand sie da, als wäre sie soeben Zeugin eines furchtbaren Unfalls geworden.

Der Glaskopf, den wir aus Claudines Bungalow mitgenommen hatten, nachdem sie verschwunden war, hatte uns beschützt. Seit wir auf dem Grundstück des Mentors wohnten, hatte er auf der hohen Mauer über uns gewacht, das Gesicht nicht zur Straße, sondern ins Innere des Gartens gewandt. Jetzt war er von seinem Posten gestürzt.

Oder gestürzt worden.

Weder die Katzen noch Wind oder Regen hatten ihn je ins Wanken gebracht.

Lola und ich gingen zusammen auf den Treppenabsatz.

Wir untersuchten die Öffnung in der Mauer, fanden aber keine Erklärung, warum der Glaskopf hätte herunterfallen können. Der Nagel, der ihn gehalten hatte, ragte aufrecht in die Höhe wie immer. Auf dem Boden lagen Scherben und Glassplitter, die in der Sonne glitzerten.

»Glaubst du, es war der Todesbote?«, fragte Lola.

So hatte sie das gefleckte Tier genannt, das wir in den letzten Tagen öfter durch den Garten hatten schleichen sehen.

»Vielleicht.«

»Todesbote« war ein Wort, das Lola in einem meiner Seminare aufgeschnappt hatte. Als sie zu mir gekommen war, hatten wir sie erst nach einigen Wochen in der Elementaryschool anmelden können. In der Zwischenzeit begleitete sie mich überallhin, auch ins Seminar zur Deutschen Literatur des 20.Jahrhunderts. Wir besprachen die Todesboten in Thomas Manns Der Tod in Venedig. Lola faszinierte die Vorstellung, es könnte so etwas wie Todesboten geben, und sie vergaß das Wort nie. Für das gefleckte Tier schien es ihr der geeignete Spitzname zu sein.

Bibliographie

Erdbebenwetter (Tropen Verlag, 2020)